Europäische Kolonialmächte importierten Homophobie nach Asien und Afrika
Es ist wieder soweit: In Erinnerung an den Stonewall-Aufstand 1969 in Manhattan wird der Monat Juni von LGBTQ-Communities gerne als „Pride Month“ gefeiert. Doch nicht alle können feiern. Weltweit fliehen Menschen vor den homophoben Regierungen ihrer Heimatländer. Schätzungen zufolge betrifft das fünf bis zehn Prozent der Geflüchteten in Deutschland. Laut EU-Richtlinien ist die Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität ein Asylgrund. 1) WIKIPEDIA: Gay Pride; zuletzt aufgerufen am 11.6.2019 2) bpb: Geschichte des Christopher-Street-Day: Vom Stonewall-Aufstand zur Wasserpistolen-Schlacht; Stand 29.6.2010 3) PRO ASYL: DER EINZELFALL ZÄHLT: NEUE NACHBARN: Vom Willkommen zum Ankommen; zuletzt aufgerufen am 7.6.2019 4) MEDIEN DIENST: Lesben, Schwule und Transgender als Flüchtlinge; Stand 4.3.2016 5) FlüchtlingsRAT: LSBTI*-Flüchtlinge in NRW; zuletzt aufgerufen am 7.6.2019
Während gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland seit Oktober 2017 durch den Beschluss der „Ehe für alle“ heiraten dürfen, fliehen homosexuelle Menschen vieler Länder vor der dortigen Homosexualität kriminalisierenden Gesetzgebung und der daraus resultierenden Verfolgung und Diskriminierung. Gegenwärtig gelten in 72 Ländern derartige Gesetze, was bei 194 Staaten auf der Welt über 37 Prozent ausmacht. Dreizehn der Regierungen stellen Homosexualität sogar unter Todesstrafe. Kein einziges dieser Länder liegt in Europa. Gegensätzlicher könnten die Gesetzeslagen und Einstellungen im „aufgeschlossenen Westen“ und „homophoben Osten“ diesbezüglich wohl kaum sein. 6) SPIEGEL ONLINE: Gesetzesänderung: Ab jetzt ist die Ehe für alle da; Stand 1.10.2017 7) WIKIPEDIA: Gesetze zur Homosexualität; zuletzt aufgerufen am 7.6.2019 8) WELT: Wo Homosexuellen Verfolgung und Todesstrafe drohen; Stand 1.3.2018
Da ist es schwer vorstellbar, dass diese Rollen einst eher umgekehrt waren. Es leuchtet ein, dass auch Europa nicht seit jeher tolerant gegenüber von der monogamen Ehe abweichenden Sexualitäten eingestellt war und sich Empowerment-Bewegungen wie die der LGBTQ-Community eher dem jüngeren Zeitalter zuordnen lassen. In den meisten EU-Ländern wurde Homosexualität erst mit Beginn der 1980er Jahre entkriminalisiert und in vielen Staaten Europas gelten bis heute eingeschränkte Rechte für homosexuelle Menschen. 9) ZEIT ONLINE: Homosexualität: Der lange Weg zur Gleichheit in Europa; Stand 11.2.2013 10) WIKIPEDIA: Gesetze zur Homosexualität; zuletzt aufgerufen am 7.6.2019
Weniger bekannt dagegen ist die ältere Vergangenheit außereuropäischer Länder bezüglich Homosexualität. Im islamischen Kulturraum beispielsweise gewährt homoerotische hochsprachige Dichtung zwischen dem 13. Und 15. Jahrhundert einen Einblick in die damalige Präsenz des Themas. Gut die Hälfte dieser romantischen klassischen Verse wurden von Männern geschrieben und an Männer gerichtet. Es geht um Sehnsucht, Liebe und Sex. Auch der Koran scheint sich nicht ausdrücklich gegen Homosexualität zu richten. Ihn und die Bibel verbindet eine ähnliche Stelle, die von verschiedenen Personen und Personengruppen unterschiedlich interpretiert wird – von den einen zugunsten der Legitimation von Homosexualität, von den anderen dagegen. Wie man diese Stelle auch deuten mag, der Koran enthält kein explizites, gegen gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen gerichtetes Verbot. Stattdessen war der Islam mehr als 1000 Jahre tolerant im Umgang mit homosexuellen Menschen, so die Islamwissenschaften. In der arabisch-islamischen Kulturgeschichte sei zwischen den Jahren 800 und 1800 keine Spur von Homophobie festzustellen. Christliche Missionare empörten sich in Berichten dementsprechend über den toleranten Umgang der Einheimischen mit Homosexuellen. Im 19. Jahrhundert reisten so manche homosexuelle Europäer in den Nahen Osten um in den arabischen Kolonien das auszuleben, was sie in ihrer damals noch homophoben Heimat nicht durften. 11) WIKIPEDIA: Homosexualität im Islam; zuletzt aufgerufen am 7.6.2019 12) WELT: Im Paradies warteten auch zarte Jünglinge; Stand 19.6.2016 13) Qantara.de: Homoerotische Dichtung im Islam: „Der Liebe verfallen, dem Wahnsinn zur Beute“; Stand 19.12.2016
Es muss also ein Wandel stattgefunden haben – Stichwort: Kolonialismus. Die meisten homophoben Gesetze auf dem asiatischen und afrikanischen Kontinent sind ein direktes Erbe dessen. Kolonialmächte importierten die Homophobie in ihre Kolonien und etablierten sie mit entsprechenden Gesetzen. Solche damals sogenannten Sodomie-Gesetze bestehen in vielen ehemaligen Kolonien bis weit über deren Unabhängigkeitserreichen hinaus. 14) AMNESTY INTERNATIONAL: HOMOPHOBIE IN AFRIKA NIMMT ZU: Amnesty: Viele afrikanische Staaten wollen Gesetze gegen Homosexuelle verschärfen; Stand 25.6.2013 15) E+Z: Die Politik der Schwulenfeindlichkeit; Stand 28.6.2010 16) die STANDARD: Homophobie: Ein Erbe der Kolonialmächte; Stand 30.6.2013 17) DW: WELT: AI: „Afrikas Anti-Schwulen-Gesetze sind Erbe des Kolonialismus“; Stand 25.6.2013 18) WELT: Islam-Homophobie – Soziologe beschuldigt Westen; Stand 16.5.2010
In Tunesien beispielsweise leiteten die Kolonialbehörden Frankreichs im Jahr 1913 die Kriminalisierung von Homosexualität ein, indem sie ein Strafgesetzbuch in Kraft setzten. Der darin gelistete Paragraph 230 sieht die Bestrafung von bis zu drei Jahren Gefängnis für sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Menschen gleichen Geschlechts vor. Zwar kommt es sehr selten vor, dass die Strafe tatsächlich verhängt wird, jedoch legitimiert besagtes Gesetz sowohl offiziell gesellschaftliche Vorurteile und Diskriminierung und bedeutet Droh- und Erpressungspotential für Betroffene. Das bis dato bestehende tunesische Strafrecht, welches 1860 unter den Husainiden verabschiedet wurde, kannte keinen Straftatbestand der Homosexualität. Ehemalige Kolonien und Mandatsgebiete Frankreichs wie der Libanon, der Senegal, Guinea oder Togo halten bis heute an solchen Strafrechten fest. 19) HEINRICH BÖLL STIFTUNG: Warum ist in Tunesien Homosexualität immer noch strafbar?; Stand 24.10.2017 20) WIKIPEDIA: Homosexualität in Tunesien; zuletzt aufgerufen am 7.6.2019 21) WELT-SICHTEN: Von Toleranz bis Todesstrafe; Stand 28.9.2009
Vor allem die britische Kolonialmacht, geprägt von der repressiven Sexualmoral des Viktorianischen Zeitalters, etablierte homophobe Strafgesetze. In den meisten Commonwealth-Ländern, ehemalige britische Kolonien und Protektorate, werden Homosexuelle auf der Grundlage britischer Kolonialgesetze verfolgt. 37 der 53 Mitgliedsstaaten des Commonwealth lassen homosexuelle Menschen verfolgen. Beispielsweise werden gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen in Ghana, Sierra Leone, Gambia und Nigeria mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft. In Jamaika droht zusätzlich Zwangsarbeit. 1861 verabschiedeten britische Kolonialisten in ihrer damaligen Kolonie Indien ein Gesetz, welches „widernatürlichen fleischlichen Verkehr“ ahnden sollte. Erst vor zwei Jahren trennte sich das heute unabhängige Indien von diesem Homosexualität kriminalisierenden Gesetz. 22) WELT-SICHTEN: Von Toleranz bis Todesstrafe; Stand 28.9.2009 23) WIKIPEDIA: Gesetze zur Homosexualität; zuletzt aufgerufen am 7.6.2019 24) ZEIT ONLINE: Todesstrafe für Homosexuelle: Bundesregierung bestellt Botschafterin von Brunei ein; Stand; 2.4.2019 25) ZEIT ONLINE: Homosexualität in Indien: … und das ist auch gut so!; Stand 16.9.2018 26) WIKIPEDIA: Gesetze zur Homosexualität; zuletzt aufgerufen am 7.6.2019
Die bis vor kurzem amtierende Premierministerin des Vereinten Königreichs Theresa May entschuldigte sich für die homophoben Hinterlassenschaften der ehemaligen Kolonialisten ihres Landes. Sie spricht vom Recht, sich einzumischen und den Wert der Gleichberechtigung zu etablieren. Der Präsident Ugandas Museveni und der anglikanische Erzbischof der Church of Uganda Orombi dagegen bezeichnen solche Vorhaben als „neokoloniale Projekte“ und als Angriff auf die afrikanische Identität. Obwohl dies eben gerade nicht der Realität entspricht, die meisten der heute homophoben Staaten vor der Kolonialisierung stattdessen eine lange Geschichte der Toleranz schreiben, hat sich die einst von außerhalb importierte Feindlichkeit gegenüber Homosexuellen mit der Zeit verfestigt und wird von einigen Regierungen heute sogar verschärft. Uganda beispielsweise war 2009 im Begriff, das antihomosexuelle Gesetz, welches auf den Kolonialgesetzen beruht, zu verschärfen, indem sie Verbote für homosexuelle Menschen auf sämtliche Lebensbereiche ausdehnen wollten. 27) Queer.de: Commonwealth-Treffen in London: Theresa May bedauert Homo-Verfolgung in Ex-Kolonien; Stand 18.4.2018 28)Queer.de: Commonwealth Games: Britische Kolonial-Olympiade: Tom Daley fordert Aufhebung des Homo-Verbots; Stand 13.4.2018
Außerdem spielen christliche Missionen eine Rolle, welche nicht nur zeitlich häufig mit dem Kolonialismus eng verflochten waren. Gerne wurde der christliche Missionsbefehl von den Kolonialmächten als Legitimation für die Landnahme betrachtet: Austausch von Land gegen den „richtigen“ Glauben. Die katholische Kirche ebnete somit nicht selten den Weg der Kolonialisierung. 29) ZEIT ONLINE: Homophobie: Missionare des Hasses; Stand 21.2.2013 30) leipzig postkolonial: »Auf den Schwingen der Kolonialbewegung zum Missionserfolg« – Die Rolle christlicher Missionen in den deutschen Kolonien; nicht mehr verfügbar 31) zeitzeichen: Kompliziertes Knäuel: Die Beurteilung der Homosexualität trennt Kirchen in Nord und Süd; zuletzt aufgerufen am 7.6.2019 32) WIKIPEDIA: Mission (Christentum); zuletzt aufgerufen am 7.6.2019 33) fluter.: Flickenteppich in Regenbogenfarben; Stand 26.2.2014
Heute verurteilen EuropäerInnen und deren Regierungen die homophoben Politiken in östlichen Ländern. Zu Recht, denn entsprechende Einstellungen und Gesetzeslagen sind zweifelsohne menschenunwürdig. Viele dieser Länder berufen sich noch heute auf entsprechende Gesetze oder verschärfen sie sogar – und das trotz ihrer inzwischen erreichten Unabhängigkeit. Dennoch könnte ein Bewusstsein darüber förderlich sein, dass die Homophobie in besagten Staaten keinem unbedingt rückschrittlichem, sondern eher einem Konzept der Moderne entspricht – einem Konzept, das in den damaligen Moralvorstellungen französischer und vor allem britischer Kolonialmächte wurzelt und frühere tolerantere Einstellungen verdrängte. Das schwarzweiße Bild vom „aufgeschlossenen Westen“ und „homophoben Osten“ kann so nicht mehr bestehen.
Fußnoten und Quellen:
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