Flucht aus Afrin – Ankaras Spiel mit den Flüchtlingen
Afrin, die Hauptstadt der Kurdenregion im Nordwesten Syriens wurde am Wochenende vom türkischen Militär und seinen Verbündeten – den syrischen Rebellen – eingenommen. Die „Operation Olivenzweig“ lief bereits seit dem 20. Januar und hatte zum Ziel, die kurdische Volksverteidigungseinheit (YPG) aus Afrin zu vertreiben. In Folge des türkischen Angriffskrieges auf die mehrheitlich von Kurden bewohnte Stadt sind bereits mehrere zehntausend Menschen geflohen. 1) Zeit-Online: Aktivisten melden 16 Tote nach Angriff auf Krankenhaus in Afrin; Artikel vom 17.03.2018
Der Angriff der türkischen Armee war von Beginn an international auf Kritik gestoßen. Denn das Eingreifen der Türkei auf fremdem Territorium im Bürgerkriegsland Syrien ist mit dem Recht auf Selbstverteidigung nicht zu legitimieren. Zudem stört die Militäroffensive massiv die Bemühungen um einen Wiederaufbau des Landes. Die Belagerung des Distrikts Afrin rechtfertigte Präsident Erdogan mit dem Label der Terrorbekämpfung. Er sieht die dort ansässige YPG aufgrund ihrer Verbindung zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK, als eine Terrororganisation. Dieser angebliche Kampf gegen Terroristen ist in Wirklichkeit aber ein Feldzug gegen eine mögliche Autonomie mit kurdischer Beteiligung, wohlgemerkt jenseits der türkischen Staatsgrenzen auf syrischem Staatsgebiet. Die kurdische Miliz YPG ist im Kampf gegen den IS mit den USA verbündet und war maßgeblich an der Vertreibung der islamischen Terrormiliz aus Gebieten in Syrien verantwortlich – bevor deren Schreckensherrschaft in den letzten Jahren hunderttausende Flüchtlinge das Land in Richtung Türkei verlassen haben. 2) Spiegel Online: Afrin in Syrien – Türkische Einheiten übernehmen die Macht; Artikel vom 18.03.2018
Damit die mittlerweile Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei nicht weiter in Richtung der europäischen Grenzen ziehen, wurde 2016 ein Abkommen zwischen den EU-Ländern und Ankara geschlossen. Im Rahmen dieses Abkommens flossen bereits bis zu diesem Jahr sechs Milliarden Euro an die Türkei, um die Lebensumstände der Flüchtlinge dort zu verbessern und eben auch, damit sie genau dort bleiben. Für Europa bedeutete der „Flüchtlingsdeal“ sowie die Schließung der Balkanroute deutlich weniger Flüchtlinge an den eigenen Grenzen. Eine Bekämpfung der Fluchtursachen sowie die Durchsetzung von Waffenstillständen im Rahmen einer Vermittlerrolle waren nie Teil des Abkommens zwischen der EU und der Türkei. Im Gegenteil führt Erdogan nun mit dem Abkommen im Rücken und dem Wissen darüber, die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in der Hand zu haben, einen gnadenlosen Krieg gegen die Kurden. Mit seinem Vorgehen in Syrien verursacht er neue Flüchtlingsströme, wofür er paradoxerweise gemäß dem EU-Türkei-Abkommen finanzielle Entschädigung erhält. Quasi ein Spiel mit dem Schicksal zigtausender Menschen. Die Reaktion der deutschen und europäischen Politik ist nicht mehr als eine besorgte Zur-Kenntnisnahme. Hierbei tritt die aktuelle Rolle der EU als Geisel der türkischen Politik zu Tage. Solange Präsident Erdogan die Flüchtlinge im eigenen Land hält und nicht weiter ziehen lässt, kann er seine Militäroffensive gegen die Kurden im syrischen Grenzgebiet durchführen ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Die Folge sind weitere Flüchtlingsströme, denen die EU nur zuschauen kann, während sie weiterhin von der Bekämpfung von Fluchtursachen spricht, ohne konkret etwas dafür zu tun. 3) Deutschlandfunk: Krieg in Syrien – Die Kurden fühlen sich im Stich gelassen; Artikel vom 19.03.2018 4) Focus Online: Warum sich die Bundesregierung nicht weiter zur Geisel türkischer Politik machen darf; Artikel vom 18.02.2018
Da die Türkei seit vielen Jahren Mitglied der NATO ist, sieht die Bundesregierung keinerlei Grund, die Lieferung von deutschen Kriegswaffen und Rüstungsgütern in die Türkei zu stoppen, denn der Export von Kriegswaffen an NATO-Staaten unterliegt grundsätzlich keinerlei Beschränkungen. So wird die kurdische YPG mit ausgemusterten Waffensystemen der Bundeswehr bekämpft. Beispielsweise ist der Leopard 2A4 Panzer im Einsatz sowie Kleinwaffen deutscher Bauart. Diese kurzsichtige und unverantwortliche Rüstungsexportpolitik bedarf einer sofortigen Beschränkung und Anpassung an das momentane Verhalten der Türkei. Ansonsten kommt der Bundesregierung weiterhin eine Mitverantwortung für die Eskalation in der Konfliktregion zu. 5) Deutschlandfunk: Offensive auf Afrin in Nordsyrien – Zeit für eine härtere Gangart gegenüber der Türkei; nicht mehr verfügbar
Nachdem Recep Tayyip Erdogan am gestrigen Sonntag bekannt gegeben hat, dass das Stadtzentrum von Afrin unter völliger Kontrolle von türkischen Einheiten sei, ist seine Mission bei weitem noch nicht beendet. Die mehr als 150 000 Zivilisten, die in den vergangenen Tagen vor den Bomben der türkischen Kampfflugzeuge aus der Stadt geflohen sind, werden nicht die letzten sein. Man geht davon aus, dass Ankara seine Angriffe auf weitere Gebiete mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit in Nordsyrien fortsetzen wird. Zudem plant die türkische Regierung eigenen Angaben zufolge, in der Region nichtkurdische Flüchtlinge, die aus Syrien geflohen waren, anzusiedeln. Dabei sollen allein in die Provinz Afrin bis zu 500.000 arabische Muslime gebracht werden. Angesichts dessen sollten die Nato-Länder darüber nachdenken, strengere Schritte gegen Erdogan einzuleiten und eine Vermittlerrolle im Syrienkonflikt einzunehmen. Andernfalls wird Syrien weiterhin Schauplatz für Stellvertreterkriege der Regionalmächte sein. 6) Welt: Afrin ist gefallen, der Krieg geht weiter; Artikel vom 19.03.2018
Fußnoten und Quellen:
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