Indigene Gemeinden werden in Guatemala gewaltsam vertrieben
Zwei indigene Gemeinden wurden in Guatemala von Großgrundbesitzern vertrieben. Hintergrund dafür sind Diskriminierung und Landstreitigkeiten, die seit Jahrzehnten andauern.
Am 30. Oktober wurden im Verwaltungsbezirk Izabal rund 80 Familien aus ihrer Gemeinde Chaab´il Ch’och‘ vom Eigentümer der Farm Santa Isabel vertrieben. Zwei Tage später kam es zu einer ähnlichen Situation in der Gemeinde La Cumbre Chamché de Tactic im benachbarten Verwaltungsbezirk Alta Verapaz. 25 dort lebende Familien wurden ebenfalls Opfer von Vertreibungen. Unter der Aufsicht von hunderten Zivilpolizisten wurden die Familien gezwungen, das Land innerhalb von wenigen Stunden zu verlassen. Anwesend waren auch Regierungsvertreter und das Amt des Ombudsmanns für Menschenrechte. Die Familien konnten nur wenige Habseligkeiten mitnehmen und leben nun unter prekären Bedingungen in Zelten – ohne Sicherheit auf eine Rückkehr und Wiederansiedlung. 1) Amerika 21: Gewaltsame Vertreibung indigener Gemeinden in Guatemala; 08.11.2017
Die Maya Q’eqchi‘ Familien lebten und arbeiteten seit mehreren Generationen auf dem Land. Nun wurden ihre Häuser von den Farm-Besitzern angezündet. Einer der Gemeindevorsitzenden der Q’eqchi‘ verurteilte das Verhalten scharf: Frauen seien während der Räumung verbal bedroht worden und mussten sich zwangsweise wegen sexueller Belästigungen und Vergewaltigungsandrohungen zurückziehen. 2) Centro de Medios Independientes: Chab’il Ch’och’ y su lucha: lo que se esconde detrás de un desalojo; 02.11.2017 3) Amerika 21: Gewaltsame Vertreibung indigener Gemeinden in Guatemala; 08.11.2017
Vier Tage nach der gewaltsamen Vertreibung besuchte eine Delegation des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte die Familien. Sie stellte fest, dass es den Menschen an allem fehle: Nahrung, Kleidung und medizinischer Versorgung. Viele hätten Magen-Probleme, Hautausschläge und Fieber. Lebensmittel wie Mais und Bohnen aus den benachbarten Gemeinden seien knapp. In improvisierten Lagern mit ein paar Laken, die vor der Flucht gerettet werden konnten, schlafen die Menschen nachts. Einen Umsiedlungsplan gebe es nicht. 4) Centro de Medios Independientes: Chab’il Ch’och’ y su lucha: lo que se esconde detrás de un desalojo; 02.11.2017 5) Prensa Comunitaria: Después del desalojo, crisis humanitaria en la comunidad La Cumbre Chamché, Tactic; Stand vom 09.11.2017 6) La Hora: Despojo, saqueo, corrupción e impunidad; 03.11.2017
Die Interamerikanische Menschenrechtskommission hielt diesen Sommer in einen Bericht fest, dass Vertriebenen Gebiete für ihre Umsiedlung zur Verfügung gestellt werden müssen, was jedoch in keinem der Fälle geschah. Das Observationszentrum für Binnengeflüchtete schätzt, dass es im Jahr 2016 in Guatemala 257.000 Vertriebene gab. Der Ombudsmann der Menschenrechte Jordán Rodas verurteilte die jüngsten Ereignisse aufs Schärfste. Es handle sich um einen „schweren Schlag gegen die Menschenrechte“.
Bei den Landkämpfen und Vertreibungen handelt es sich nicht um Einzelfälle – sie ziehen sich seit langem durch die Geschichte der indigenen Völker in Guatemala. Während der Kolonialzeit unter spanischer Krone regelten die Kolonialherren den Zugang zu Land und brachten die vorher bestehende Ordnung völlig durcheinander. Sie vergaben zunächst zeitlich begrenze Nutzungsrechte an Einzelpersonen oder indigene Gemeinschaften. Im 16. und 17. Jahrhundert verkauften sie dann Landtitel, um die Finanzengpässe in den königlichen spanischen Schatullen zu verringern. Bereits kurz nach der Unabhängigkeit Guatemalas erfolgten Bemühungen zur grundlegenden Änderung der kolonialen Landbesitzverhältnisse. Die Regierung enteignete umfangreiche Ländereien, auch das Gemeinschaftsland der indigenen Völker blieb nicht unangetastet. Viele Menschen gerieten in die Verschuldung – sowohl die Nachkommen der Maya (Indigene) als auch die Ladinos, die von Europäern und Indigenen abstammen. Sie alle waren gezwungen, Land zu verkaufen oder als Farmhelfer zu arbeiten. Nach den Aufständen der Menschen gegen die Reformen wurde der Ladino Rafael Carrera der neue Präsident Guatemalas und viele Gemeinden erhielten ihre Ländereien zurück. Es entwickelte sich jedoch immer mehr eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, in welcher die Ladinos über den Indigenen standen. Diese gründet auf Annäherungsprozessen zwischen der weißen Oligarchie und den Ladinos. Ihnen boten sich durch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes soziale Aufstiegsmöglichkeiten, wohingegen die Indigenen weiterhin in der Produktion und Verarbeitung tätig waren.
Hier gründet die heute noch geltende Spaltung des Landes in zwei Gruppen. Die wichtigen Posten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind von den Ladinos besetzt während die Nachkommen der Maya die Masse der am oder unterhalb des Existenzminimums lebenden Subsistenzbauern stellt. Das Verhältnis von Ladinos und Indigenen ist von Geringschätzung und Verachtung geprägt. Der Unterschied ist dabei kein rassistischer, sondern ein kultureller und sozialer, welcher durch die Zugehörigkeit zu und Identifikation mit einer Gruppe bestimmt wird. Die indigenen Gemeinden sind nach wie vor sozialen, politischen und wirtschaftlichen Benachteiligungen ausgesetzt. Die Menschen werden ausgegrenzt und leben in Armut. 7) Sabine Kurtenbach: Guatemala; 1998; Stand vom 09.11.2017 8) Konrad Adenauer Stiftung: Staatliche Indigena-Politik in Lateinamerika im Vergleich; Juli 2007 9) Amnesty International: Was sind indigene Völker; nicht mehr verfügbar
Auch eine Lösung der eskalierenden Gewalt von Großgrundbesitzern gegenüber indigenen Gemeinden ist nach Einschätzung von Beobachtern nicht absehbar. Jorge Santos, Leiter des Internationalen Untersuchungszentrums für Menschenrechte, schreibt in seiner Kolumne in der guatemaltekischen Tageszeitung La Hora, dass die Vertreibung und Enteignung von indigenem Land offensichtlich als historische Mechanismen aus der spanischen Kolonialzeit noch intakt sind und die aktuelle Regierung diese begünstigt. 10) Amerika 21: Gewaltsame Vertreibung indigener Gemeinden in Guatemala; 08.11.2017
Fußnoten und Quellen:
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