Erneuter Bürgerkrieg im Nordirak könnte große Fluchtbewegung nach Europa entfesseln
Nach dem Unabhängigkeitsreferendum der nordirakischen Kurden am 25. September 2017, bei dem eine überwältigende Mehrheit sich für eine Abspaltung vom Irak entschieden hatte, droht ein neuer Bürgerkrieg im Nordirak zu entflammen. Das Vorrücken der iranischen schiitischen Milizen und der irakischen Armee in die multiethnische und multireligiöse Stadt Kirkuk, die von den Kurden besetzt wird und vor einigen Wochen nahezu vollständig erobert wurde, hatte dazu geführt, dass die derzeitige Lage zu eskalieren droht. Die Stadt wurde fast ohne Gegenwehr der Kurden eingenommen, da einige kurdische Anführer schnell eingegriffen und mit der Regierung in Bagdad eine „Vereinbarung“ ausgehandelt hatten, um ein großes Blutbad zu verhindern. In einer anderen Region sah es anders aus: In der gerade eben freigekämpften Stadt Mossul richteten beide Seiten ihre Waffen aufeinander. Es gab zahlreiche gefallene Soldaten. Die Rede ist von über 100 Toten und Verwundeten, und das nur auf der Seite der irakischen Armee. Die kurdischen Kämpfer haben bei dem Blutvergießen vornehmlich deutsche Waffen benutzt, die die deutsche Bundeswehr seit ihrem Rückzug am 13. Oktober 2017 aus der Krisenregion zurückgelassen hatte. 1) gfbv.de: Irak: Kampf um Kirkuk könnte neue Fluchtbewegung auslösen; 17.10.2017 2) taz.de: Bundeswehr setzt Ausbildung fort; 23.10.2017
Derweil hatte die kurdische Regionalregierung in der Nacht zum Mittwoch, den 25. Oktober 2017, Bagdad angeboten, das Ergebnis des Unabhängigkeitsreferendums vorerst einzufrieren, um mit der irakischen Zentralregierung ins Gespräch zu kommen, was derzeit auch zu funktionieren scheint: Dementsprechend wurde vorübergehend nach diesen Ereignissen ein zwischenzeitlicher Waffenstillstand ab der Nacht des 27. Oktober 2017 von Seiten der irakischen Regierung mit den Peschmerga-Kämpfern ausgehandelt und am 29. Oktober 2017 verlängert. Diese Verlängerung gelte, bis beide Parteien das gemeinsame Regieren der „umstrittenen Gebiete“ der Peschmerga, darunter auch der grenznahen Ortschaften, vereinbart haben. Außerdem wurde auch eine Vereinbarung zum Abzug der Kurden aus den von ihnen besetzten „umstrittenen Gebieten“ getroffen. Doch jetzt wirft die irakische Zentralregierung den Kurden vor, gegen die Regelung des Abzugs der kurdischen Truppen zu verstoßen und droht mit Vergeltung, sollten die Regierungstruppen unter Beschuss geraten. „Wenn sie sich nicht [an die Vereinbarung] halten, werden wir tun, was wir wollen“, sagte der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi gestern Abend. Man würde den Kurden dann „die Kraft des Gesetzes“ zeigen. Der Sprecher al-Abadis bzw. der US-geführten Koalition gegen die Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS), teilte außerdem zum Bedauern mit, dass die beiden Lager zwar miteinander sprechen würden, aber diese Feuerpause mit Iraks Regierung nicht offiziell sei und nur dazu diene, irakische Kräfte an die von kurdischen Kämpfern gehaltenen Grenzübergänge zu verlegen, worauf man sich auch geeinigt hat. Die Lage bleibt entsprechend sehr angespannt. 3) Der Spiegel Online: Kurden bieten Bagdad Kompromiss an; 25.10.2017 4) Welt: Bagdad wirft Kurden Verstoß gegen Vereinbarung zu Truppenabzug vor; 02.11.2017 5) watson.ch: Irakische Armee und Kurden vereinbaren Waffenstillstand; 27.10.2017
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) sieht diesen brodelnden Stand der Dinge als sehr besorgniserregend an und hatte in einer ihrer Pressemitteilungen eine rasche diplomatische Initiative der EU zur Beruhigung der Lage im Nordirak gefordert. Denn diese Lage könnte eine neue sehr große Fluchtbewegung der dort lebenden Kurden, syrischer Flüchtlinge sowie der vertriebenen Yeziden und Christen aus dem nordirakischen Sinjar und der Ninive-Ebene auslösen. Der GfbV-Nahostreferent Kamal Sido hatte am Dienstag in Göttingen ausdrücklich darauf hingewiesen: „Ein weiterer Vormarsch der irakischen Armee und der vom Iran unterstützten Milizen wird die gesamte, seit Jahren relativ beständige Kurdenregion des Irak destabilisieren und zu einer großen Fluchtbewegung führen. Mindestens zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien sowie vertriebene Yeziden und Christen aus dem nordirakischen Sinjar und der Ninive-Ebene haben in Irakisch-Kurdistan – auch in der erdölreichen Provinz Kirkuk – Zuflucht gefunden. Wenn sie erneut vor blutigen Auseinandersetzungen flüchten müssen, werden viele keine Zukunft mehr im Irak sehen und sich auf den Weg nach Europa machen.“ Unter den Flüchtlingen sind auch viele arabische Sunniten, die von den schiitischen Milizen pauschal verdächtigt werden, mit dem islamischen Staat (IS) zusammengearbeitet zu haben. Der Referent Sido führt weiter aus: „Mehrere zehntausend sunnitische Araber aus dem Irak haben in Deutschland bereits Asyl beantragt. Viele von ihnen berichten von Gräueltaten an Angehörigen ihrer Volksgruppe durch schiitische Milizen in den mehrheitlich arabisch-sunnitischen Provinzen Al Anbar, Tikrit, Diyala oder Mossul im Westen bzw. im Norden des Irak.“ 6) gfbv.de: Irak: Kampf um Kirkuk könnte neue Fluchtbewegung auslösen; 17.10.2017
Die GfbV appellierte deshalb auch an die Regierungen der EU-Staaten, damit diese eine Initiative starten, um ein Scheitern des friedlichen Zusammenlebens in der ölreichen Stadt Kirkuk zu verhindern. Laut der Organisation habe es viele Anstrengungen gegeben, um den Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Volksgruppen und Religionsgemeinschaften dieser Region zu ermöglichen. Beispielsweise verweist die GfbV auf die von ihr in Kirkuk organisierte große Konferenz unter der Schirmherrschaft des damaligen Bischofs von Kirkuk, Dr. Luis Sako, der heute Patriarch von Babylon und das Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Kirche im Irak und in der Welt ist. An der erfolgreichen Konferenz nahmen damals rund 150 Persönlichkeiten aller Nationalitäten und Religionsgemeinschaften teil, darunter Kurden, Araber, Turkmenen, Assyrer-Aramäer-Chaldäer, Yeziden, Schabak, Mandäer, Christen und Muslime sowie Vertreter der regionalen kurdischen und irakischen Zentralregierung. Nun scheinen die damals erzielten Erfolge zunichte gemacht. 7) gfbv.de: Irak: Kampf um Kirkuk könnte neue Fluchtbewegung auslösen; 17.10.2017
Bei den Kurden sieht die Lage ebenfalls sehr angespannt aus: Die Gefechte der schiitischen Milizen und der irakischen Armee mit den Kämpfern der kurdischen Peschmerga hatten tausende von ihnen dazu bewegt, ihre Häuser zu verlassen und bei Verwandten, in Moscheen, leerstehenden Flüchtlingslagern, bei Pfarrern und der Stadtverwaltung Schutz zu suchen. Gewaltsame Übergriffe gegen die Bevölkerung, Plünderungen, Brandstiftung und Repressalien waren getätigt worden. Astrid Meyer, Regionalreferentin beim deutschen Hilfswerk „Misereor“, berichtet: „Die Nachrichten aus der Region um die Städte Kirkuk und Mossul sind besorgniserregend. Allein in der Stadt Tuz Khurmatu wurden mehr als 100 Häuser in Brand gesteckt und deren kurdische Bewohnerinnen und Bewohner vertrieben. Angesichts dieser Ereignisse ist ihre baldige Rückkehr mehr als fraglich. Die Flüchtlinge und aufnehmenden Gemeinden sind dringend auf Unterstützung angewiesen. Internationale Hilfe ist noch nicht erkennbar.“ Laut Frau Meyer drohe auch eine gleichzeitige weitere Eskalation, da eine Annullierung des kurdischen Referendums von Seiten der Regierung in Bagdad gefordert wird. 8) misereor.de: MISEREOR unterstützt Flüchtlinge im Nordirak; nicht mehr verfügbar
Mit einer Soforthilfe von 100.000 Euro unterstützt das Hilfswerk Misereor die Versorgung der Flüchtlinge im Nordirak. Ihre Partnerorganisationen, die Jiyan Foundation, die in Kirkuk ein Regionalzentrum betreibt und CAPNI (Christian Aids Program in Northern Iraq) mit dem Sitz in Dohuk übernehmen dabei die Arbeit vor Ort bzw. leisten Nothilfe zur Erstversorgung der Binnenflüchtlinge. Trinkwasser, Lebensmittel (insbesondere zur Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern), Decken sowie Hygieneartikel werden im Rahmen der Arbeit verteilt, und eine mobile Ambulanz sichert die medizinische Betreuung. Rund 2000 kurdischen Familien kommt diese Hilfe zugute. 9) misereor.de: MISEREOR unterstützt Flüchtlinge im Nordirak; nicht mehr verfügbar
Fußnoten und Quellen:
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