Trotz Mitverantwortung – EU schickt afghanische Flüchtlinge zurück in den Krieg
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International zeigt sich erschüttert über die aktuellen Abschiebepraktiken der Europäischen Union (EU). Besonders, wenn es um Asylsuchende geht, welche zurück nach Afghanistan abgeschoben werden sollen, bezeichnet Amnesty das Vorgehen der EU als „rücksichtlos“ und „ungesetzlich“. In ihrem Anfang Oktober veröffentlichten Bericht, „Forced back to danger“, stellt die Organisation den europäischen Staaten – darunter Deutschland – ein Armutszeugnis aus und nennt jede weitere Abschiebung „völkerrechtswidrig“. Die Regierungen setzten Menschen in einem Land aus, in welchem ihnen täglich Gewalt, Folter, Entführungen und Tod drohen würden. 1) Amnesty International: Bundesregierung ignoriert Lebensgefahr für abgelehnte Asylbewerber; Artikel vom 05.10.17 2) Amnesty International: Forced back to danger; Stand vom 30.10.17
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF), eine Behörde des Innenministeriums, welche über Abschiebungen entscheidet, bewertet Afghanistan – zumindest in Teilen – als sichere und zumutbare Schutzalternative. Das ist erstaunlich, da sich das BaMF mit seinen Entscheidungen auf die Einschätzungen des Auswärtigen Amtes (AA) beruft. Die landesspezifischen Sicherheitshinweise für Afghanistan, die das AA auf seiner Internetseite veröffentlicht hat, lesen sich jedoch erschreckend und erschreckend eindeutig. Besonders seit dem Anschlag von Kabul im Mai bestehe unverminderte Gefahr im Land. „Bombenanschläge, bewaffnete Überfälle und Entführungen gehören seit Jahren in allen Teilen von Afghanistan zum Angriffsspektrum der regierungsfeindlichen Kräfte“, so das AA. Dennoch wird weiterhin abgeschoben. 3) Auswärtiges Amt: Afghanistan: Reisewarnung; Stand vom 30.10.17
Franziska Vilmar, Expertin für Asylpolitik und -recht bei AI kritisiert dieses Vorgehen scharf. „Noch nie, seit dem Ende der Taliban-Herrschaft im Jahr 2001, war die Gefahr für Leib und Leben in Afghanistan so groß wie heute. Die Bundesregierung muss unverzüglich dafür sorgen, dass in Anbetracht der äußerst schlechten Menschenrechts- und Sicherheitslage niemand mehr nach Afghanistan abgeschoben wird.“ Amnesty wirft der EU eine bewusste Blindheit gegenüber den Gefahren vor, die Rückkehrer in ihren Heimatländern, insbesondere in Afghanistan, zu erwarten hätten. 4) ZEIT Online: Amnesty International nennt Abschiebungen illegal; Artikel vom 05.10.17
Im Jahr 2016 gab es Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge in diesem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land knapp 12.000 Tote und Verletzte. Der größte Anstieg an Kriegsopfern seit 2009. Dennoch haben Deutschland und Afghanistan im Oktober letzten Jahres eine „Gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit in Fragen der Migration“ unterzeichnet. Seitdem wurden über 100 Menschen nach Afghanistan abgeschoben, auch solche, die als Kinder nach Deutschland geflüchtet waren. Die Anzahl der – angeblich – freiwilligen Rückführungen nahm ebenso zu. Der Anstieg der Rückführungen läuft also beinahe parallel zum Anstieg der Gewalt im Land.
Eine im Juli vom Auswärtigen Amt veröffentlichte Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan bezeichnet der Verein Pro Asyl als unzureichend, unkonkret und enttäuschend. Die tatsächliche Situation vor Ort würde nicht hinreichend dargestellt. Die Bedrohung durch die Taliban werde heruntergespielt, die Rekordflüchtlingszahlen ebenso. Eine zumutbare Fluchtalternative innerhalb der afghanischen Grenzen gibt es nach Pro Asyl nicht.5) Pro Asyl: Thema verfehlt – Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes zu Afghanistan unzureichend; Artikel vom 25.08.17 6) Pro Asyl: Zur Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes zu Afghanistan; Artikel vom 25.08.17
Anfang August dieses Jahres verständigte sich – nach enormem äußeren Druck – das Innenministerium mit dem Auswärtigen Amt über eine Einschränkung der Abschiebungen. Demnach dürfen aktuell nur noch Straftäter und Gefährder nach Afghanistan abgeschoben werden. Die Umsetzung dieser Verständigung ist jedoch nicht wirklich transparent. Man kann nur hoffen, dass sich Deutschland und auch alle anderen europäischen Länder ihrer Verantwortung für die Flüchtlinge bewusst sind bzw. werden. Deutschland ist seit 2001 in Afghanistan aktiv und konnte bislang offensichtlich nicht für sichere Zustände sorgen. Die Bundesregierung sollte die Sicherheitslage demnach akkurat einschätzen können.
Um es mit den Worten des höchsten deutschen Gerichtes zu sprechen: „Gerade den Auslandsvertretungen fällt eine Verantwortung zu, die sie zu besonderer Sorgfalt bei der Abfassung ihrer einschlägigen Berichte verpflichtet, da diese für die Exekutive eine wesentliche Entscheidungsgrundlage bilden.“ Wer auch immer nach der Regierungsbildung das AA leitet, wird diese Verantwortung übernehmen müssen.
Nicht nur die deutsche Auslandsvertretung trägt eine große Verantwortung beim Umgang mit Flüchtlingen aus Afghanistan, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland als Staat per se. So war es die Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die den verbündeten Vereinigten Staaten blind folgte, als diese einen Sündenbock für den 11. September suchten und wenige Wochen nach den Anschlägen am Hindukusch einfielen und das Taliban-Regime stürzten. Seither ist die Lage im Land katastrophal und die Taliban noch immer nicht besiegt. Die Frage, ob der Afghanistan-Einsatz jedoch gerechtfertigt war, stellte sich die Bundesregierung nie 7) Süddeutsche Zeitung: Bundeswehr in Afghanistan – Krieg, Kritik und Angst; Artikel vom 17.5.10
„Bei außenpolitischen Notwendigkeiten könne es eine Gewissensentscheidung nicht geben“, so Kanzler Schröder, als er im Bundestag über den Beginn des Afghanistan-Einsatzes abstimmen lässt.
Fußnoten und Quellen:
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