Ruanda: Belgische Kolonialmacht legt Grundstein für Genozid
Am 4. August wird in dem ostafrikanischen Binnenstaat Ruanda ein neuer Präsident gewählt. Diane Shima Rwigara galt bis zu ihrer Disqualifikation als größte Konkurrentin des amtierenden Staatschefs. Sie beanstandet die Wahlkommission wegen fehlender Unabhängigkeit zur Regierung, welche sie schon länger kritisiert. Amnesty International beklagt eine Unterdrückung von Journalisten und Oppositionellen. Im Vorfeld der Wahlen werden besonders kritische Stimmen verhaftet. Präsident Paul Kagame ist seit 2000 im Amt. Die letzte Wahl 2009 gewann er mit mehr als 90 Prozent der Stimmen. Unter seiner Führung wurde Ruanda zu einem sauberen, erfolgreichen und friedlichen Land. Es wird auf erneuerbare Energien und umweltschonende Maßnahmen gesetzt. Über die Hälfte seiner Minister ist weiblich. Viele Polizisten stellen den Frieden im Land sicher. Der ist staatlich verordnet. Vom Genozid an den Tutsi durch die Hutu vor 23 Jahren ist kaum noch etwas zu spüren. Die Bezeichnungen sind zudem aus dem öffentlichen Sprachgebrauch verbannt worden. Bei Verwendung droht eine Haftstrafe. Heute wird die Einheit der Bevölkerung durch den Satz „Wir sind alle Ruander“ betont. 1) Mitteldeutsche Zeitung: 23 Jahre nach Völkermord. Warum Ruanda heute das Boom-Land Afrikas ist; Artikel vom 11.07.17 2) AG Friedensforschung: Kagame liest dem Westen die Leviten; Artikel vom 08.09.10 3) Deutsche Welle: Unliebsame Präsidentschaftskandidatin in Ruanda entfernt; Artikel vom 07.07.17
Kolonialherrn spalten das Volk
Wie konnte es eigentlich zu den grauenhaften Massenmorden kommen? Und wo war die Weltgemeinschaft, als fast eine Million Tutsi starb? Und wer sind die Tutsi und Hutu eigentlich? Was unterscheidet sie? Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich mit der Vorkolonialzeit beschäftigen. Als Hutu wurden die Menschen in der Landwirtschaft bezeichnet, als Tutsi die wohlhabendere Gesellschaft, die Land und Vieh besaß. Auch der König wurde als Tutsi bezeichnet. Durch sozialen Auf- und Abstieg waren die Grenzen fließend. Tutsi und Hutu haben dieselbe Religion und Sprache. Auch gruppenübergreifende Heirat war möglich. Tutsi und Hutu sind also keine verschiedenen Ethnien, sondern der soziale Status eines gemeinsamen Volkes. Durch die Kolonialzeit kamen zum ersten Mal rassenideologische Ansätze ins Land. Sie begann 1899 und dauerte bis zum Ersten Weltkrieg unter deutscher Herrschaft an. Um die Stellung zu festigen, unterstützte die deutsche Leitung das Königtum und bevorzugte die reichen Hirten. Im Zuge des Ersten Weltkriegs ging die Kolonie an Belgien. Jene schürten ethnische Konflikte, wo es keine ethnische Differenz gab. Die ruandische Bevölkerung bekam Pässe, in denen ihre vermeintliche ethnische Identität stand. Somit wurde die Bevölkerung bewusst gespalten. 4) Exzellenzcluster Uni Konstanz: Der Völkermord in Ruanda; Artikel vom 03.04.09 5) AG Friedensforschung: Vor 15 Jahren begann in Ruanda der Völkermord an den Tutsi: Unvollendeter Versöhnungsprozess; Artikel vom 07.04.09 6) AG Friedensforschung: Intervention à la française; Artikel vom 29.03.13
Nun wurde ein Hutu, der zu Reichtum kam und Vieh hütete, nicht mehr zum Tutsi. Er blieb Hutu. Dies führte zu Spannungen zwischen und innerhalb der beiden Schichten. Anfangs bevorzugte auch die belgische Kolonialführung die Tutsi, bis schließlich der Druck der Hutu zu groß wurde. 1959 begann der Aufstand. Mehr als 300.000 Tutsi wurden mithilfe der Belgier in die Nachbarländer wie Uganda vertrieben. Nach den ersten blutigen Auseinandersetzungen starben bis 1966 mindestens 75.000 von ihnen. Der Aufstand der Hutu stellte auch gleichzeitig eine antikoloniale Widerstandsbewegung gegen Belgien dar. 1962 wurde Ruanda unabhängig. Die sogenannte Partei der Hutu-Emanzipationsbewegung kam an die Macht und unterdrückte jede Opposition. Das sorgte für erste Spannungen auch innerhalb der Hutu. 1973 gab es einen Staatsstreich von General Juvénal Habyarimana, der für die nächsten 20 Jahre das Land regierte. Er galt als moderat und führte eine Einheitsregierung an. 7) Exzellenzcluster Uni Konstanz: Der Völkermord in Ruanda; Artikel vom 03.04.09 8) AG Friedensforschung: Vor 15 Jahren begann in Ruanda der Völkermord an den Tutsi: Unvollendeter Versöhnungsprozess; Artikel vom 07.04.09 9) AG Friedensforschung: Intervention à la française; Artikel vom 29.03.13 10) Süddeutsche Zeitung: Sie sangen, sie soffen, sie schwangen ihre Macheten; Artikel vom 03.08.16 11) AG Friedensforschung: Völkermord in Ruanda; Artikel vom 12.03.04
Der konstruierte Konflikt eskaliert
Viele der Tutsi, die in Folge dessen in Uganda aufwuchsen, wurden militärisch von den USA ausgebildet und ausgerüstet. Sie bildeten seit den 1980er Jahren die Ruandische Patriotische Front (RPF), die sich als Ziel den Regierungssturz in Ruanda setzte. Als Reaktion auf diese 2.000 bewaffneten Menschen, die der ruandischen Armee überlegen waren, unterzeichnete die Regierung 1993 ein Abkommen, welches eine Regierungsbeteiligung der RPF vorsah. Dies wurde von extremistischen Hutu als Versuch der Tutsi propagiert, die Macht an sich zu reißen. Am 6. April 1994 beginnt der Genozid mit dem Abschuss des Flugzeugs des Präsidenten. Es liegt nahe, dass extremistische Hutu es selbst waren, um die systematische Abschlachtung an den Tutsi zu rechtfertigen. Durch massive Propaganda wurden weitere Hutu dazu verleitet, sich dem Blutrausch hinzugeben. Obwohl die stationierten Blauhelm-Soldaten bei der UN um ein Eingreifen mit weiteren Soldaten baten, wurde dies verboten. Belgien zog seine Soldaten sogar ab und die verbliebenen Blauhelme konzentrierten sich darauf, die ausländische Bevölkerung in Sicherheit zu bringen. Erst Mitte Mai beschloss der UN-Sicherheitsrat einzugreifen, jedoch wollte nicht ein einziges Ratsmitglied Truppen stellen. Dafür war die RPF im Land auf dem Vormarsch. Nachdem im Juni klar wurde, dass die ruandische Armee der RPF unterlegen war, sprach man im UN-Sicherheitsrat erstmals von einem Völkermord. Doch auch nun konnten weder Truppen noch Waffen mobilisiert werden. Erst am 22. Juni schickte Frankreich 2.500 Soldaten. Sie sollten im Westen des Landes eine „Schutzzone“ einrichten. Hierhin flüchteten Millionen Hutu vor der RPF. Darunter waren jedoch auch die Regierungstruppen sowie die mordenenden Extremistengruppen. Jene wurden von den französischen Soldaten jedoch nicht entwaffnet, was eine Destabilisierung der Region zur Folge hatte und als eine der Hauptursachen für den Krieg im Kongo gilt. Am 4. Juli eroberte die RPF die Hauptstadt Kigali, wodurch schließlich das Morden beendet wurde. 12) AG Friedensforschung: Ruandas Krieg in Ostkongo wirft die Frage nach den Hintergründen des Völkermords von 1994 auf; Artikel vom 14.11.08 13) AG Friedensforschung: Völkermord in Ruanda; Artikel vom 12.03.04 14) Exzellenzcluster Uni Konstanz: Der Völkermord in Ruanda; Artikel vom 03.04.09 15) AG Friedensforschung: Vor 15 Jahren begann in Ruanda der Völkermord an den Tutsi: Unvollendeter Versöhnungsprozess; Artikel vom 07.04.09 16) Süddeutsche Zeitung: Chronik des Versagens; Artikel vom 06.04.14 17) Süddeutsche Zeitung: Sie sangen, sie soffen, sie schwangen ihre Macheten; Artikel vom 03.08.16 18) AG Friedensforschung: Intervention à la française; Artikel vom 29.03.13
Frankreich gesteht Mitschuld bis heute nicht ein
Während der drei Monate starben bis zu einer Million Tutsi und gemäßigte Hutu. 2,5 Millionen flüchteten. Dieses internationale Versagen und die Mitschuld haben mittlerweile die meisten Regierungen eingesehen – Frankreich jedoch nicht. Dabei soll besonders Frankreich eine entscheidende Rolle gespielt haben. In einem ruandischen Untersuchungsbericht von 2008 wird das französische Militär nur beschuldigt, die mordenden Milizen ausgebildet zu haben, einige Soldaten sollen sich sogar selbst an den Morden beteiligt haben. Ein kürzlich erschienener Artikel des französischen Journalisten Patrick de Saint-Exupéry berichtet von Waffenlieferungen der französischen Regierung an die Milizen. Frankreich wusste demnach schon früh von den Massakern und wer daran beteiligt war – die Waffenlieferungen gingen weiter. 19) AG Friedensforschung: Vor 15 Jahren begann in Ruanda der Völkermord an den Tutsi: Unvollendeter Versöhnungsprozess; Artikel vom 07.04.09 20) AG Friedensforschung: Ruanda erneuert Vorwürfe gegen Frankreich; Artikel vom 07.04.14 21) Süddeutsche Zeitung: Blutige Spur in den Élysée-Palast; Artikel vom 18.07.17
Als in Ruanda 1994 ein künstlich geschaffener ethnischer Konflikt eskalierte, schaute die Welt weg. Vielleicht ist die internationale Staatengemeinschaft nicht so sehr schuldig wie Belgien, das den Konflikt durch die Kolonialpolitik überhaupt verursacht hat, oder Frankreich, das mit Waffenlieferungen ein entscheidender Akteur war, doch auch fehlende Hilfeleistungen machen schuldig. Es wäre schön, wenn die Staaten mittlerweile gelernt hätten, dass sie das ebenso schuldig macht. Waffenlieferungen an Länder wie Saudi-Arabien zeigen jedoch das Gegenteil.
Fußnoten und Quellen:
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