Afghanistans Krise dauert auch knapp 16 Jahre nach Kriegsbeginn an – War die US-Invasion 2001 gerechtfertigt?
Jens Spahn, CDU-Bundestagsabgeordneter und Staatssekretär, erklärte kürzlich in einem Interview mit der „Tageszeitung“, dass nach intensivem Prüfen im Einzelfall auch nach Afghanistan abgeschoben werden soll. Es dürfe kein Land pauschal ausgeschlossen werden, nur weil es dort Attentate und Gewalt gibt. Andernfalls schaffe man Anreize für die 35 Millionen dort Lebenden nach Deutschland zu kommen. 1) taz: „Jeder Fall wird intensiv geprüft“; Artikel vom 30.04.2017 Aufgrund dieser Aussage lassen sich drei konkrete Fragen ableiten: Ist Afghanistan ein sicheres Herkunftsland? Welche Gründe ergeben sich für Teile der afghanischen Bevölkerung nach Europa, respektive Deutschland, zu flüchten? Und hat der Westen keine Verantwortung, wie Jens Spahns Aussagen suggerieren, diese Flüchtlinge bei uns aufzunehmen?
Die ersten zwei Fragen lassen sich anhand der Fakten problemlos beantworten. Sowohl der politische Zustand als auch die Sicherheitslage sind in Afghanistan desolat. Mehr noch, die politische Lage wirkt zunehmend instabil. Das amerikanisch präferierte Modell der Einheitsregierung, um Präsident Aschraf Ghani und Regierungschef Abdullah Abdullah funktioniert auch nach zwei Jahren nicht und trägt wenig zur Stabilität des fragilen Landes bei. Ethnische Differenzen und ungeklärte Aufgabenbereiche führen immer wieder zu großen Missverständnissen, sodass die Regierung immer mehr im Chaos zu versinken droht. 2) DW: Is the Afghan unity government falling apart; Artikel vom 12.04.2016 Präsident Ghani wird dabei vorgeworfen, die zentralen Probleme des Landes außer Acht zu lassen und sich nur um kleinere und unwichtigere Thematiken zu kümmern. Außerdem verliert er unter seinen engsten Vertrauten die Unterstützung, was ihn zunehmend isoliert erscheinen lässt. 3) DW: Is President Ghani a solution or a problem for Afghanistan; Artikel vom 26.04.2017 Das kulminiert in einer desolaten und fehlgeleiteten Innenpolitik, worunter auch der kleinste und unschuldigste Teil der Bevölkerung zu leiden hat. Laut „Save the Children“ drohen 2017 1.100 Kinder täglich aus dem Schulsystem zu fallen. 4) epo: 2017 werden täglich mehr als 1.100 Kinder aus dem Bildungssystem fallen; Artikel vom 23.03.2017
Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen können, sind jedoch auch auf die Sicherheitslage in Afghanistan zurückzuführen. Erst vor knapp zwei Wochen ereignete sich eines der tödlichsten Attentate in der afghanischen Geschichte. Terroristen der Taliban sind in eine Militärbasis eingedrungen und haben über 160 sich in Ausbildung befindende Soldaten ermordet. 5) NYT: Afghan Base Massacre Adds New Uncertainty to Fight Against Taliban; Artikel vom 23.04.2017 Passend dazu kündigte die Taliban, nur eine Woche nach dem verheerenden Anschlag, ihre routinemäßige Frühlingsoffensive an, was zu weiteren Gräueltaten führen wird. 6) Southasian Monitor: Afghan Taliban launch ‘Spring Offensive’; nicht mehr verfügbar Das jedoch ist nur der traurige Höhepunkt des steigenden Einflusses der Taliban über die letzten Jahre. Aufgrund einer korrumpierten und demoralisierten Armee und Rücktritten von Generälen feiert die Taliban weiterhin Gebietsgewinne. Das führte so weit, dass die amerikanische Marine in Helmand, die dort bereits 2014 abgezogen wurde, wieder zurückkehrte, um die militärische Präsenz zu stärken. 7) NYT: Marines Return to Helmand Province for a Job They Thought Was Done; Artikel vom 29.04.2017
Jedoch macht der afghanischen Regierung nicht nur die Taliban zu schaffen, sondern auch der IS versucht weiterhin sein selbst ausgerufenes „Kalifat“ zu verteidigen und seinen Einfluss in Afghanistan geltend zu machen. Mit gezielten Angriffen auf die zivile Bevölkerung trifft der IS die Regierung und die Schutzmacht Amerika empfindlich, sodass die amerikanische Regierung um Präsident Trump die „Mutter aller Bomben“, die in ihrem Ausmaß ihrem Namen alle Ehre macht, über Afghanistan abwarf, um IS-Ziele zu eliminieren. 8) Washington Post: Some in Afghanistan question U.S. choice to use 22,000-pound bomb against ISIS; Artikel vom 14.04.2017 Es ist also klar, dass Afghanistan nicht als ein sicheres Herkunftsland gelten kann und die afghanische Bevölkerung aufgrund einer pessimistischen Zukunftsaussicht und bürgerkriegsähnliche Zustände gute Fluchtgründe hat.
Um die dritte Frage, ob der Westen Mitschuld am derzeitigen Zustand trägt, zu beantworten, muss man weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Die Invasion in Afghanistan, namentlich „Enduring Freedom“, die sich im Oktober zum 16. Mal jährt, muss als Hauptgrund angesehen werden, da sie die komplette wirtschaftliche Grundlage zerstörte und zehntausende Opfer forderte. Zudem hinterließ der Krieg ein Machtvakuum, das die Einheitsregierung nicht füllen kann und bis heute Raum für terroristische Organisationen wie den Taliban und den IS hinterließ. 9) Huffington Post: Afghanistan War Is Not a Just War; Stand vom 05.05.2017 Der Afghanistan-Krieg 2001 ist also zweifelsohne immer noch der Hauptgrund für die schwierige und komplexe Lage im Land, jedoch ist entscheidend, ob er gerechtfertigt und keine andere, friedliche Lösung möglich war. Diese Frage ist bis heute höchst umstritten, ist sie doch der Knackpunkt für eine mögliche Verantwortung des Westens in Afghanistan.
Wenn man internationales Recht als Legitimationsgrundlage heranzieht, ist der Krieg höchst zweifelhaft. Der Einmarsch in Afghanistan wurde vom UN-Sicherheitsrat nie bewilligt, was ihn de facto schon als illegitim erscheinen lässt. Die Invasion wurde als Racheakt auf den Terroranschlag auf 9/11 gewertet und legitimierte sich, nach amerikanischem Verständnis, um weitere Anschläge auf amerikanischem Boden zu verhindern. Jedoch ist auch dies eine schwache Rechtfertigung, um Krieg gegen Afghanistan und gegen die dortig regierende Taliban zu führen, da der Anschlag nicht von der Nation Afghanistan begangen wurde, sondern mutmaßlich von einer Organisation namens Al-Qaida, die ihren Organisationsradius nicht auf Afghanistan beschränkt. Vielmehr lässt sich die Gründung und deren anfängliche Unterstützung in Saudi-Arabien verorten. Das logischere Ziel wäre demnach eher das Königreich gewesen. Aufgrund langjähriger Verbindungen im Ölsektor und der langen Historie eines treuen Verbündeten stand dieses Ziel jedoch außer Debatte.
Ein weiterer Grund, warum der Einmarsch diskussionswürdig erscheint, ist, dass der damalige US-Präsident Georg W. Bush der Taliban lediglich zwei Wochen Zeit gab, um Osama bin Laden, damaliger Chef der Al-Qaida, an die USA auszuliefern. Dieses äußerst kurze Ultimatum deutet nicht darauf hin, dass Präsident Bush mit allen Mittel eine friedliche Lösung anstrebte, wie es aber von der UN-Charta ausdrücklich in Artikel 2(3) und 2(4) gefordert wird. 10) E-IR: Was the NATO Invasion of Afghanistan Legal; Artikel vom 06.11.2013
Letztendlich, legal oder illegal, muss man konstatieren, dass die Operation „Enduring Freedom“, weder Freiheit noch Frieden brachte. Mangels eines fehlenden und effektiven Nachkriegsplans, ist Afghanistan auch nach knapp 16 Jahren ein nahezu gescheiterter Staat, in dem Tod und Hoffnungslosigkeit dominieren. Spahns Aussagen erscheinen in diesem Licht als zu kurz gegriffen und lassen die historischen Fakten und Verantwortlichkeiten außer Acht, denn auch Deutschland beteiligte sich munter am Afghanistan-Krieg.
Fußnoten und Quellen:
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